Statement zum ausgesetzten Bewegungs- und Sportunterricht an Schulen aus sport-pädagogischer Sicht

Seit dem 16. März 2020 ist der Unterricht an österreichischen Schulen weitgehend sistiert. Wenn am 18. Mai bzw. 3. Juni 2020 die Schulen ihren Unterricht in allen Jahrgangsstufen schrittweise wiederaufnehmen, ist Unterricht im Fach Bewegung und Sport (BuS) nicht vorgesehen. Dieser Umstand wird kontrovers (öffentlich) diskutiert. Hierzu wollen wir im Folgenden einige, wie wir finden, wichtige Positionen aus sportpädagogischer Perspektive beitragen.

Bewegung und Sport sind in unserer modernen Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Entsprechend besitzt der Unterrichtsgegenstand Bewegung und Sport (BuS) eine unverwechselbare und breite bildungspolitische Legitimation. Im schulischen Fächerkanon zielt insbesondere BuS auf eine ganzheitliche leibliche Bildung und auf Lernziele auf sensomotorischer, kognitiver und affektiver Ebene ab. BuS sorgt auf diese Weise u.a. für eine angemessene Bewegungsförderung aller Kinder und Jugendlichen, die schulisches Lernen insgesamt nachhaltig unterstützt und ein grundlegendes Fundament sport- und bewegungsspezifischer Kompetenzen legt.

Zudem können in BuS Prozesse ganzheitlicher Entwicklungsförderung angeregt und Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit angebahnt werden. Insbesondere auch ein in pädagogischer Verantwortung inszeniertes Thematisieren vorhandener Ambivalenzen im Feld Bewegung und Sport (z.B. Macht und Ermächtigung, Heterogenität und Diversität, Doping und Fairness) bietet Potenzial für heranwachsende Generationen. BuS-Unterricht geht somit über das bloße Sporttreiben weit hinaus, zentral ist ein Erfahren verschiedener Perspektiven des sich Bewegens (z.B. Gesundheit, Gestalten, Leisten, Erleben).

Ausgehend von diesen Begründungen hat BuS die (doppelte) Aufgabe, sowohl die Bewegungs- und Sportkultur zu erschließen als auch einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu leisten. Diese pädagogische Leitidee findet sich auch im Bildungsstandard BuS und in den zugehörigen kompetenzorientierten Lehrplänen wieder. Nicht zuletzt ist BuS dafür prädestiniert, fächerübergreifende Bildungsanliegen gezielt aufzugreifen und zu unterstützen, wie z.B. interkulturelle Bildung, reflexive Geschlechterpädagogik, Umweltbildung für nachhaltige Entwicklung.

In den für uns alle außergewöhnlichen Umständen hat sich in diversen Feldern gezeigt, dass Engagement und Kreativität zu außerordentlichen Ergebnissen führen können. Gerade Sport-lehrkräfte verfügen aufgrund ihrer akademischen Ausbildung über professionelle Kompetenzen, Möglichkeitsräume zu schaffen, die ein Abhalten von BuS auch unter den höchst verantwortlich gesetzten Maßnahmen realistisch erscheinen lässt, wie z.B.

 

 Spiele ohne Körperkontakt, Workout/Ganzkörperkräftigung, Koordination, Tanz, Stretching und Entspannung, kleine Wanderungen oder Läufe, jeweils unter Beachtung der Abstandsregeln – als Beitrag zur Entwicklung von Fachkompetenz

 Lernen durch bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers und soziale Interaktion – als Beitrag zur Entwicklung von Selbst- und Sozialkompetenz

 Vermittlung von Wissen, u.a. wie ein in der Freizeit sinnvolles und sicheres bewegen stattfinden kann, allein oder ggf. zu zweit unter Beachtung der Abstandsregeln – als Beitrag zur Entwicklung von Methodenkompetenz

 

Die aktuelle Situation ließe sich auch gezielt dafür nutzen, dass Schüler*innen im Unterrichtsfach BuS den Einsatz digitaler Medien und Technologien für körperliche und sportliche Optimierungs- und Inszenierungsprozesse reflektieren lernen. Zudem kann BuS im Freien abgehalten werden, sowohl auf schuleigenen Außen(sport)anlagen als auch in der Natur, in Parks bzw. im öffentlichen Raum, wie auch in der Freizeit.

Der Entfall von BuS trifft vermutlich jene Schüler*innen besonders, die außerschulisch wenig Anreize für Bewegung und Sport erhalten. In einem doppelten Sinne wäre es daher für alle Kinder und Jugendlichen bedeutsam, in Bewegung zu kommen: um ihnen einerseits ein im Schulsystem einzigartiges ganzheitliches Bildungsangebot zu offerieren und um andererseits möglichen Unterschieden zwischen Schüler*innen – wie auch in anderen Unterrichtsgegenständen – zu begegnen. Dadurch könnte mit Bewegungsarmut einhergehenden Begleiterscheinungen entgegengetreten und Wohlbefinden gefördert werden. Besonders in Zeiten wie diesen wäre aus sportpädagogischer Sicht die Wiederaufnahme des Unterrichts im Fach Bewegung und Sport wünschenswert.

 

Gezeichnet

Abteilung Sportpädagogik/-didaktik & Sportgeschichte

Institut für Sportwissenschaft, Universität Wien

Ass.-Prof. Mag. Dr. Rosa Diketmüller

Ass.-Prof. MMag. Dr. Stefan Meier

Univ.-Ass. Mag. Dr. Christina Mogg, MPH

ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Rudolf Müllner

Univ.-Ass. MMag. Andreas Raab, Bakk.

https://medienportal.univie.ac.at/uniview/wissenschaft-gesellschaft/detailansicht/artikel/zentral-ist-die-erfahrung-des-sich-bewegens/

kurier.at/sport/stillstand-im-schulsport-ein-plaedoyer-der-wissenschaft/400844564